Schweizer Kinder im Zweiten Weltkrieg

Ovomaltine und Caran D'ache

Ihre Grossväter oder Urgrossväter sind nach Deutschland ausgewandert. Sie haben ihr ganzes Leben hier gelebt. Dennoch fühlen sie sich von ganzem Herzen mit der Schweiz verbunden. Prägendes Erlebnis der drei Ludwigshafener Schweizer sind ihre Aufenthalte vor und nach Kriegsende bei Gastfamilien in der Schweiz.

«Nein, schweizerdeutsch kann ich nicht mehr, aber ich verstehe es leidlich.» Der Muothataler Karl-Heinz Ulrich feierte gerade seinen 80. Geburtstag in Ludwigshafen. Er werkelt am liebsten in seinem Schrebergarten. Mit seinem Freund, auch einem Schweizer, macht er Velotouren von gerne mal fünfzig Kilometern Länge. Sein Ururgrossvater war Mitte des 19. Jahrhunderts aus dem Muothatal als Melker nach Deutschland gekommen.

Die heute 89-jährige Frieda Albert, geborene Dörig, ist geistig ebenfalls sehr rege, keine Spur von Erinnerungslücken. Ihr Grossvater war ebenfalls Melker und stammte aus Appenzell. Frieda Albert betreute während 29 Jahren die Kasse des Schweizer Vereins Ludwighafen.

Der Grossvater von Karl Fässler (83 Jahre) war aus dem schwyzerischen Unteriberg in die Gegend von Ludwigshafen ausgewandert. Nach schwierigen Anfangsjahren eröffnete er eine Milchhandlung. Sein Enkel Karl Fässler war viele Jahre Präsident des Schweizer Vereins Ludwigshafen.

«Wir waren alle rappeldürr»

Während des Krieges lebten alle drei in Ludwigshafen. «Es war furchtbar. Wir wurden dreimal ausgebombt. Die Lebensmittelversorgung wurde gegen Ende des Krieges immer prekärer. Aber da gab es Frau Suter. Sie lebte in der Nähe des Ebertplatzes, sie brachte uns die heiss begehrten Lebensmittelpakete aus der Schweiz», erzählt Karl-Heinz Ulrich.
Auch die neun Jahre ältere Frieda Albert berichtet von Frau Suter. Sie sei Vorstandsmitglied des Schweizer Vereins Ludwigshafen gewesen. Das Schweizerische Konsulat, das damals seinen Sitz in Baden-Baden hatte, lieferte die Pakete. Frau Suter übernahm deren Verteilung. Die Pakete waren an die Bedürfnisse der jeweiligen Familien angepasst. Familien mit Kindern erhielten manchmal eine Dose Ovomaltine, was die Kinderaugen erstrahlen liess. Als die 15-jährige Frieda 1947 ihren Kleidern restlos entwachsen war, fand sie ein Kleid und einen warmen Wintermantel in Frau Suters Paket. Auch Wünsche wurden berücksichtigt.
«Diese Lieferungen waren für uns umso wichtiger, da wir als Ausländer während des Krieges weniger Lebensmittelkarten erhielten als deutsche Familien», betont Karl Fässler. Nach Kriegsende erfuhr er, dass seine ganze Familie auf einer Deportationsliste für ein Konzentrationslager gestanden hatte.

Zum Aufpäppeln in die Heimat

Im Winter 1950/51 durfte der fast zehnjährig Karl-Heinz Ulrich für drei Monate in die Schweiz. Er erinnert sich noch genau an den langen Zug, in dem Hunderte von Kindern mit Schildern um den Hals sassen und in dem sie vom Roten Kreuz betreut wurden. Im Basler Bahnhofsrestaurant gab es Suppe, und alle Kinder wurden ärztlich untersucht. Da er leichte Erkältungssymptome hatte, steckte man Karl-Heinz für eine Woche in Quarantäne ins Kinderspital. Eine Rote-Kreuz Schwester brachte ihn anschliessend mit dem Zug nach Glarus. Er landete in Elm bei Familie Kubli.

Dort gab es keinen Unterricht, aber der Lehrer versorgte ihn mit Schulbüchern. Diese liess der kleine Karl-Heinz aber links liegen. Er spielte lieber mit den Kindern im Dorf und hütete Geissen. Er fühlte sich wohl in Elm.
März bis Juli 1953 konnte Karl-Heinz in Ebnat-Kappel SG bei Familie Brunner verbringen. Das kinderlose Ehepaar schloss den rappeldürren Zwölfjährigen ins Herz. Bis zu deren Tod hatte er einen herzlichen Kontakt zu den ehemaligen Gasteltern.
Der Gastvater war Wagner, der Räder, Fässer und Möbel fertigte. Hier ging ihm Karl-Heinz zur Hand, fegte durch und klopfte Nägel wieder gerade. «Na ja, die Schweizer sind eben sparsam», lächelt er.
Auch Karl Fässlers Eltern meldeten ihren Jungen für einen Schweiz-Aufenthalt beim Konsulat an. So kam er 1946 und 1947 je vier Monate in die Schweiz. In Erlenbach (ZH) in der Seevilla eines reichen Bankiers lernte er mit Messer, Gabel und Serviette essen. Nach der Rückkehr traute er seinen Augen kaum, wie dürftig die Portionen waren, die auf den heimischen Esstisch kamen. Mit den Kindern der zweiten Gastfamilie in Cham hat Karl Fässler noch heute Kontakt. Damals, nach seiner Ankunft in Cham, erfüllte ihm diese Familie einen Herzenswunsch: Er bekam eine Schachtel Caran D'Ache und ein Malbuch. «In Deutschland kratzten wir immer noch auf einer Schiefertafel rum», erzählt Karl Fässler, «na ja, gelernt haben wir doch».
Frieda Albert hält den Rekord unter den drei Ludwigshafener Schweizreisenden. Ihr war es vergönnt, fünfmal in die Schweiz zu fahren. Sie kam bei einer Metzgerfamilie im bernischen Konolfingen unter, dreimal im Hotel Des Alpes im bündnerischen Samedan und zuletzt in Zürich. Fast überall fühlte sie sich wohl. Nur die Zürcher Familie, in der sie fast zwei Jahre lebte, sparte ihr das Essen vom Mund ab. «Pro Juventute zahlte ja für meinen Unterhalt. Bei meiner Rückkehr bemerkte der Konsul entsetzt, dass ich ja unterernährt war.»


Die Kinderzüge in die Schweiz
Die Stiftung «Schweizerhilfe, Ferienaktion für Auslandschweizerkinder» organisierte Freiplätze und sammelte Geld für die Ferienversorgung von Auslandschweizer Kindern. Jedes Jahr konnte über 4'000 Kindern geholfen werden. Über 10'000 Lebensmittelpakete wurden an Auslandschweizer Kinder in den Kriegsgebieten verschickt. Seit 1979 nennt sie sich «Stiftung für junge Auslandschweizer» (SJAS). Noch heute organisiert sie Ferienlager für Schweizer Kinder und Jugendliche, die im Ausland leben.
Dank der Gastlichkeit und der unglaublichen Spendenbereitschaft der Schweizer Bevölkerung konnten ab 1946 auch ausländische Kinder aus allen europäischen Brennpunkten der Zerstörung Ferien in der Schweiz machen. Ganze Kinderzüge rollten u.a. aus Dresden, Berlin und Hamburg an. Die deutschen Kinder wurden nach medizinischen Kriterien ausgesucht. Der Zug von Hamburg nach Basel brauchte zwei Tage und zwei Nächte, um am Bestimmungsort anzukommen. Denn an allen wichtigen Bahnhöfen konnten weitere Kinder zusteigen. Mit an Bord waren auch die Ludwigshafener Schweizer Kinder.

Aus der Schweizer Revue 3/2021, Monika Uwer-Zürcher; Bilder: muz und privat

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